Tabu-Panik: Wie man Grass zum SS-Clown stempelt
Zwei Wochen sind um, seit
der Veröffentlichung von Was gesagt werden muss. Seither
haben es eine Unzahl ambitionierter Geister Grass gleichgetan, haben
den Stift gezückt oder der Kamera ins Auge geblickt, haben ihren
Mund geöffnet und gesagt, was zum Gesagten, das gesagt werden
musste, gesagt werden muss. Brillant oder sachlich war das nicht
immer. Immerhin aber wurde geredet.
Freilich: Die große
Hysterie ist vorüber. Die bestand vor allem darin, Grass ins braune
Abseits zu kreischen. Der Panik-Reflex begann mit der
Antisemitismus-Keule und gipfelte im beleidigten „Wir lassen Dich
nicht rein“ Netanjahus. Die Debatte ist seither nüchterner und
etwas differenzierter geworden. Die Grass-Demontierung ist immer noch
im Gange.
Ja, selbst dort, wo die
Kernfragen des Gedichts aufgegriffen und als legitim verteidigt
werden, geht das nicht ohne Seitenhiebe vor sich. Der da fragt und
die Weise, wie er fragt, unterliegen einer permanenten
Ridikülisierung. Die Kritik an der ultra-nationalistischen
Netanjahu-Regierung müsse erlaubt sein. Auch das völlig
unkontrollierte Atomwaffenprogramm der Israelis müsse thematisiert
werden. Ja und ja. Aber bitte nicht so, wie Grass das macht. Das sei
wichtigtuerisch, ungeschickt, überzogen, überhaupt pseudo-poetisch,
ungekonnt. Eigentlich, heißt das, macht der alte Grass sich
lächerlich.
Die Diskreditierung des
Nobelpreisträgers drückt sich vor allem im Trend der Psychogramme
aus, die wie Pilze aus dem Boden aus Druckerschwärze sprießen.
Grass bekämpfe sich mit seinen Versen im Grunde selbst, lesen wir im
Feuilleton der Zeit. Die Rede vom Tabubruch sei natürlich
völlig absurd, vor allem aber symptomatisch. Symptom von einem, der
mit der eigenen Vergangenheit hadert. Der die Fesseln der deutschen
Schuld abstreifen möchte. In der Freitag wird uns der gleiche
Braten serviert. Grass sei, heißt es hier, im langen Schatten der
Shoah alt geworden, sei ein typisches Nazizeit-Kind, das mit aller
Macht versucht, ans Licht zu krabbeln, heraus aus dem Dunkel der
Schuld. Und das ginge nun einmal am Besten, wenn man das Opfer von
einst zum Täter von jetzt macht. Nur wenige Seiten danach eine
weitere Analyse, diesmal zudem germanistisch: Grass wolle ein
historisch relevanter, politischer Dichter sein, schaffe das aber
nicht; Brecht sei viel besser gewesen, der habe spitzfindig und
treffend gedichtet, Grass artikuliere stümperhaft tiefsitzende
rassistische Ressentiments.
Herzlichen Glückwunsch, meine Herren. Die
da derartig vor sich hin schwurbeln, hätten es besser bei der
Pychologie heute versucht – da wären sie allerdings
gnadenlos abgewiesen worden. Die Zeit und der Freitag, die
veröffentlichen sowas. Eigentlich ist das lächerlich genug, um es
schlicht zu überlesen. Die schiere Anzahl der Analysen dieser
Stoßrichtung macht mir
allerdings Sorge. Das alles ist Ablenkung von den Kernaussagen
des Gedichts. Ablenkung von den Möglichkeiten, die eine offene und
ehrliche Debatte darüber bereit hielte. Eine Debatte, die den Autor
vergisst, Stil von Inhalt trennt und sich um die Sache kümmert. Die
Hobby-Freuds führen einen Diskurs auf Abwege, der ungemein wichtig
ist. Dass ein derartiges, sachfernes und beleidigtes Trara sich
regelrecht durch alle Zeitungen zieht und den Tenor der Grass-Debatte
darstellt, muss jeden freien Geist beunruhigen.
Wenn gestritten wird, ist
das gut. Das ist der Ausweis jeder funktionierenden Demokratie. Aber
kann hier wirklich von Streit die Rede sein? Was die Presse uns da
bisher liefert, ist keine an den Sachen orientierte Meinungsvielfalt,
die in die Tiefe der Fakten drängt, sondern ein Idyll. Ein Idyll aus
weitestgehender Einigkeit, hier und da zart erschüttert durch
Personen wie Jakob Augstein oder Michael Lüders. Ersterer allerdings
konterkariert seine Bemühungen um Sachlichkeit selbst, indem er
Grass die benannten Seitenhiebe verpasst. Und indem er, als
Herausgeber von der Freitag,
das Psycho-Bla publiziert, ohne
für entsprechendes Gegengewicht zu sorgen. Der Nahostexperte Lüders
hat kaum Unterstützung oder Präsenz im medialen Mainstream. Mutiger
ist da schon eher Die Süddeutsche.
Erstaunlich ist doch eines:
Die Kluft zwischen dem Presseecho und der Volksmeinung. In den
sozialen Netzwerken zeigt sich das und in den Tageszeitungen zeigt
sich das - sofern es die Leserbriefe anbelangt. Bürger, die Grass den Rücken stärken und die eklatante
Einseitigkeit und Kurzgriffigkeit der freien Presse anprangern,
bilden hier die überwiegende Mehrheit. In den offiziellen
Medien spiegelt sich das kaum.
Israel darf nicht nur
kritisiert werden, es muss kritisiert werden. Hinsichtlich
seiner menschenverachtenden Siedlungspolitik in Palästina ebenso wie
hinsichtlich seines völlig eigenwilligen Atomwaffenprogrammes.
Israel gebärdet sich als großer Bedrohter und Ängstlicher, und das
ist durchaus verständlich. Aber diese Angst darf keine Verbrechen
legitimieren. Ein Präventivschlag gegen den Iran wäre ein solches
Verbrechen. Das Verhalten in Ghaza ist ein solches Verbrechen.
Die Ignoranz gegenüber
diesen Fakten in der deutschen Presse ist gefährlich. Da werden
gewisse Zustände ganz einfach verschwiegen oder, wenn sie
auftauchen, runter geredet. Die völlig überzogene Verteufelung des
Iran hinsichtlich der Bombenfrage, der noch nicht einmal sein ziviles
Atomprogramm realisiert hat, wie kein zweites Land unter der
Kontrolle der IAEA steht und seit 300 Jahren einen einzigen
Verteidigungskrieg geführt hat, grenzt an schierer Propaganda.
Wer
sich fürchtet, der wird aggressiv, sagt ein altes Sprichwort. Und
der Wütende ist blind, sagt ein anderes.