Mittwoch, 18. April 2012


Tabu-Panik: Wie man Grass zum SS-Clown stempelt


Zwei Wochen sind um, seit der Veröffentlichung von Was gesagt werden muss. Seither haben es eine Unzahl ambitionierter Geister Grass gleichgetan, haben den Stift gezückt oder der Kamera ins Auge geblickt, haben ihren Mund geöffnet und gesagt, was zum Gesagten, das gesagt werden musste, gesagt werden muss. Brillant oder sachlich war das nicht immer. Immerhin aber wurde geredet.

Freilich: Die große Hysterie ist vorüber. Die bestand vor allem darin, Grass ins braune Abseits zu kreischen. Der Panik-Reflex begann mit der Antisemitismus-Keule und gipfelte im beleidigten „Wir lassen Dich nicht rein“ Netanjahus. Die Debatte ist seither nüchterner und etwas differenzierter geworden. Die Grass-Demontierung ist immer noch im Gange.

Ja, selbst dort, wo die Kernfragen des Gedichts aufgegriffen und als legitim verteidigt werden, geht das nicht ohne Seitenhiebe vor sich. Der da fragt und die Weise, wie er fragt, unterliegen einer permanenten Ridikülisierung. Die Kritik an der ultra-nationalistischen Netanjahu-Regierung müsse erlaubt sein. Auch das völlig unkontrollierte Atomwaffenprogramm der Israelis müsse thematisiert werden. Ja und ja. Aber bitte nicht so, wie Grass das macht. Das sei wichtigtuerisch, ungeschickt, überzogen, überhaupt pseudo-poetisch, ungekonnt. Eigentlich, heißt das, macht der alte Grass sich lächerlich.

Die Diskreditierung des Nobelpreisträgers drückt sich vor allem im Trend der Psychogramme aus, die wie Pilze aus dem Boden aus Druckerschwärze sprießen. Grass bekämpfe sich mit seinen Versen im Grunde selbst, lesen wir im Feuilleton der Zeit. Die Rede vom Tabubruch sei natürlich völlig absurd, vor allem aber symptomatisch. Symptom von einem, der mit der eigenen Vergangenheit hadert. Der die Fesseln der deutschen Schuld abstreifen möchte. In der Freitag wird uns der gleiche Braten serviert. Grass sei, heißt es hier, im langen Schatten der Shoah alt geworden, sei ein typisches Nazizeit-Kind, das mit aller Macht versucht, ans Licht zu krabbeln, heraus aus dem Dunkel der Schuld. Und das ginge nun einmal am Besten, wenn man das Opfer von einst zum Täter von jetzt macht. Nur wenige Seiten danach eine weitere Analyse, diesmal zudem germanistisch: Grass wolle ein historisch relevanter, politischer Dichter sein, schaffe das aber nicht; Brecht sei viel besser gewesen, der habe spitzfindig und treffend gedichtet, Grass artikuliere stümperhaft tiefsitzende rassistische Ressentiments.

Herzlichen Glückwunsch, meine Herren. Die da derartig vor sich hin schwurbeln, hätten es besser bei der Pychologie heute versucht – da wären sie allerdings gnadenlos abgewiesen worden. Die Zeit und der Freitag, die veröffentlichen sowas. Eigentlich ist das lächerlich genug, um es schlicht zu überlesen. Die schiere Anzahl der Analysen dieser Stoßrichtung macht mir allerdings Sorge. Das alles ist Ablenkung von den Kernaussagen des Gedichts. Ablenkung von den Möglichkeiten, die eine offene und ehrliche Debatte darüber bereit hielte. Eine Debatte, die den Autor vergisst, Stil von Inhalt trennt und sich um die Sache kümmert. Die Hobby-Freuds führen einen Diskurs auf Abwege, der ungemein wichtig ist. Dass ein derartiges, sachfernes und beleidigtes Trara sich regelrecht durch alle Zeitungen zieht und den Tenor der Grass-Debatte darstellt, muss jeden freien Geist beunruhigen.

Wenn gestritten wird, ist das gut. Das ist der Ausweis jeder funktionierenden Demokratie. Aber kann hier wirklich von Streit die Rede sein? Was die Presse uns da bisher liefert, ist keine an den Sachen orientierte Meinungsvielfalt, die in die Tiefe der Fakten drängt, sondern ein Idyll. Ein Idyll aus weitestgehender Einigkeit, hier und da zart erschüttert durch Personen wie Jakob Augstein oder Michael Lüders. Ersterer allerdings konterkariert seine Bemühungen um Sachlichkeit selbst, indem er Grass die benannten Seitenhiebe verpasst. Und indem er, als Herausgeber von der Freitag, das Psycho-Bla publiziert, ohne für entsprechendes Gegengewicht zu sorgen. Der Nahostexperte Lüders hat kaum Unterstützung oder Präsenz im medialen Mainstream. Mutiger ist da schon eher Die Süddeutsche.

Erstaunlich ist doch eines: Die Kluft zwischen dem Presseecho und der Volksmeinung. In den sozialen Netzwerken zeigt sich das und in den Tageszeitungen zeigt sich das - sofern es die Leserbriefe anbelangt. Bürger, die Grass den Rücken stärken und die eklatante Einseitigkeit und Kurzgriffigkeit der freien Presse anprangern, bilden hier die überwiegende Mehrheit. In den offiziellen Medien spiegelt sich das kaum.

Israel darf nicht nur kritisiert werden, es muss kritisiert werden. Hinsichtlich seiner menschenverachtenden Siedlungspolitik in Palästina ebenso wie hinsichtlich seines völlig eigenwilligen Atomwaffenprogrammes. Israel gebärdet sich als großer Bedrohter und Ängstlicher, und das ist durchaus verständlich. Aber diese Angst darf keine Verbrechen legitimieren. Ein Präventivschlag gegen den Iran wäre ein solches Verbrechen. Das Verhalten in Ghaza ist ein solches Verbrechen.

Die Ignoranz gegenüber diesen Fakten in der deutschen Presse ist gefährlich. Da werden gewisse Zustände ganz einfach verschwiegen oder, wenn sie auftauchen, runter geredet. Die völlig überzogene Verteufelung des Iran hinsichtlich der Bombenfrage, der noch nicht einmal sein ziviles Atomprogramm realisiert hat, wie kein zweites Land unter der Kontrolle der IAEA steht und seit 300 Jahren einen einzigen Verteidigungskrieg geführt hat, grenzt an schierer Propaganda. 

Wer sich fürchtet, der wird aggressiv, sagt ein altes Sprichwort. Und der Wütende ist blind, sagt ein anderes.

Zur Realsatire eines Tabus. Grass & das Israel Gedicht

Anm.: Dieser Beitrag wurde am 06.04 auf YouTube publiziert. Als Reaktion auf die Berichterstattung der ARD-Tagesthemen-Sendung vom 05.04.2012 

Was war das wieder für ein feines Exempel unvoreingenommener, um die Sache bemühter Interviewarbeit, das uns die ARD da geliefert hat. Erst Kleber, mit dem schiefen Gesicht, jetzt Buhrow, mit den falschen Haaren. Äußerlichkeiten, na klar, die eigentlich keinen interessieren. Aber genau dann komisch werden, wenn sie mit informeller Asymmetrie und journalistischer Scheinheiligkeit korrelieren. 

Da sitzt er also, in seinem Atelier, Grass, der viel diskutierte Nobelpreisträger, der das Gespenst des Antisemitismus unter dem Bett der Bundesrepublik hervor gescheucht hat. Der ausrangierte Trommler, der Verirrte, der die letzte Tinte seines nicht voller werdenden Füllers besser für ein neues Buch verwendet hätte - wie es heißt. Für etwas, das respektabel gewesen wäre und sein Renommee nicht buchstäblich über den Jordan geschickt hätte. 

Was gesagt werden muß ist der Titel des unwürdigen Stücks Literatur, um das es geht. Viel wurde entgegnet, nachdem sich Grass den Judengram von der Seele geschrieben hatte. Von Faktendrehern ist die Rede, von absurden Relationen. Das Gedicht sei in der Sache falsch. Aber: von welcher Sache reden wir? 

Das Tabu, das sei so eine Sache. Das Tabu Israel-Kritik. Aber: Das gibt es hierzulande doch gar nicht, gibt Buhrow zu Protokoll. Lächelnd tut er das, mit Nachsicht gegen den alten Trommler, der da ja scheinbar ganz absurde Rhytmen anschlägt. 

Absurd? Wirklich? Mir scheint es wie gestern, als die Medien ein empörtes Donnern zusammen paukten, so laut, dass die Trommeln der Zustimmung kaum auszumachen waren. Ja, und dies Donnern richtete sich nicht allein auf die falschen Sachen – es führte, als brachialsten Ton, die Diffamierung mit sich. Grass sei der „Prototyp des gepflegten Antisemiten“, so Henrik M. Broder. Und sein Gedicht gar kein Gedicht, sondern ein „Hasspamphlet aus Aggressivität und Verwirrung“. So jedenfalls der Präsident des jüdischen Zentralrates. 

Seltsam. Was gesagt werden muss scheint mir gar nicht Judenfeindlich zu sein. Eher irgendwie besorgt. Besorgt um den Frieden unter den Menschen - aber das ist vielleicht eine abwegige und verspielte Interpretation. Verteidigungsminister Demisier jedenfalls, sagt Buhrow, der habe doch Israel klipp und klar kritisiert. Habe kein Blatt vor den Mund genommen, habe Klartext gesprochen – und da hat keiner was gegen gehabt. Kritik an Israel? Geht doch. Ganz normal. Und für eine Sekunde halte ich inne und frage mich: Habe ich da was verpasst? Aber nein, es wurde ja gesendet und auch jetzt wird der O-Ton wieder von der ARD hervorgekramt, jenes Zitat, das die Kritikfähigkeit unserer Gesellschaft belegt, gesprochen vom deutschen Verteidigungsminister, adressiert an den israelischen Amtskollegen, dem er, ohne falsche Scham, klipp und klar, in bester kritischer Manier zu Bedenken gibt: „Eine militärische Eskalation brächte nach meiner Überzeugung nicht kalkulierbare Risiken für Israel, für die Region.“ Puh. Das muss der israelische Staatsmann erst einmal verdauen. 

Und während ich mich frage, wieso dieser Hinweis basalster Vernunft überhaupt als Kritik gilt, geht es Buhrow schon wieder um die Sachen. Und zwar: um die Bedrohungsfrage. Nicht Israel sei nicht die Bedrohung, sondern der Iran. Gebetsmühlenartig wird wiederholt, was sich bereits im Unterbewusstsein eines jeden Deutschen mit TV-Gerät und Kleingeld für die Tageszeitung eingenistet hat: Das sog. Mullah-Regime bestreite das Existenzrecht Israels, wolle es gar von der Landkarte tilgen

Reden wir also von diesen Sachen. Ehrlich, im Angesicht der Fakten. Doch weder Buhrow, noch der dem Interview nachgeschaltete Kommentar des zweiten Chefredakteurs der ARD-Nachrichtenredaktion, Thomas Hinrichs, können ihrem Anspruch, die Sachen ins korrekte Licht zu rücken, gerecht werden. Nein: Es ergeht lediglich der Hinweis, dass Iran bedrohe und Iran die unberechenbare Gefahr in diesem Konflikt sei. Der unthematische Rest der Richtigstellung, besteht in dem Versuch eines Psychogramms des Wahrheitsvedrehers Grass. Selbstgerecht sei der, sehe Kampagnen und Gleichschaltung, wo es gar keine gäbe. Grass, der Schizophrene, der Trommler mit Wahnvorstellungen. 

Leider ist das ganze nicht so einfach. Dass Ahmadinejad seit Jahren durch die westlichen Lande zieht, um den panischen Okzident zu ent-ängstigen, Interviews gibt, in denen er die tiefe Aversion gegen die Idee einer Atombombe zum Ausdruck bringt und vor dem UN-Sicherheitsrat, Rede für Rede, Jahr um Jahr, für die globale, nukleare Abrüstung wirbt – das alles wird gar nicht erwähnt. Ja, es scheint gar so zu sein, als wisse das weder Kleber noch Buhrow. Was sie allerdings zumindest wissen sollten, ist, dass die Landkartentilgung Israels so nie angedroht wurde. Sie beruht - wie so oft - auf einem Übersetzungsfehler, der längst eingeräumt wurde. Und dennoch, nach wie vor, als effektvoller Beweis auf den Zungen und Stiften der Journalisten geführt wird. 

Auch Helmut Karasek hat sich gemeldet. Und nachdem Reich-Ranicki ihm jahrelang, im Literischen Quartett, die Butter vom Brot genommen hat, hat er jetzt Rache geübt und Grass seinen Senf auf die Stulle geschmiert. Wenn jemand behauptet, 2 mal 2 ergebe 5, sagt Karassek, solle man sich nicht wundern, wenn die Öffentlichkeit einen des Rechenfehlers bezichtigt. Eine schöne Analogie. Es fragt sich nur: Wer leidet hier eigentlich an Dyskalkulie? 

Die deutsche Presse jedenfalls täte gut daran, sich der Kritik eines Günter Grass ernsthaft zu öffnen. Immerhin besteht die Chance, dass die gängigen Rechenexempel ganz einfach nicht aufgehen.